Montag, Januar 24, 2022

Neulich im Jahr 1893...

 Man möge mit Prognosen immer sehr vorsichtig sein, vor allem wenn sie die Zukunft beträfen, meinte einst Mark Twain - und er hatte recht. Ich habe mir auf Grund einer Anmerkung Björn Lomborgs das Buch "Today Then" besorgt (man bekommt es nur noch second hand), in welchem Zeitungsartikel aus dem 19. Jahrhundert zusammengefasst sind, die anlässlich der Weltausstellung in Chicago im gleichen Jahr in verschiedenen Zeitungen in den USA erschienen sind.


Verfasst wurden diese von bekannten Persönlichkeiten der damaligen Zeit, die in unterschiedlichen Bereichen tätig waren. Die Aufgabe, die man diesen Leuten stellte war, dass sie sich Gedanken darüber machen sollten, wie das Leben in 100 Jahren, also 1993 aussehen könnte. Das ist insofern eine spannende Geschichte, da 1993 bereits 29 Jahre hinter uns liegt und wir somit ziemlich genau wissen, was damals los war und wie unsere Vorfahren bei diesen Prognosen in den Sack gehauen haben. Um es vorweg zu nehmen, sie haben zu 90% versagt. Die beste Prognose steht am Ende des Artikels im Original und in der Google-Übersetzung.

Wenn man sich die Artikel durchliest, erkennt man erst, wie wenig weitsichtig wir sind. Um es mal mit der Wetterprognose zu vergleichen, vor 40 Jahren war die Wetterprognose für die nächsten 2 Tage zu 80-90% in Ordnung. Eine Woche war Kaffeesatzleserei und konnte nicht geliefert werden. Heute bietet mein Handy eine 14tägige Prognose, bei der die ersten 7 Tage sich in dem 80-90% Zeitfenster bewegen. Die Vorhersage für den nächsten Tag ist zu >95% korrekt in Bezug auf Temperatur und Niederschlag. Ähnlich ist es mit unseren Prognosen heute. Wir können vielleicht ein bisschen besser in die Zukunft blicken als unsere Vorfahren, die Wahrscheinlichkeit, bei Langzeitprognosen (Stichwort: Klimawandel bis 2100) daneben zu liegen ist aber weiterhin gegeben und sehr hoch.

Was die Verfasser wissen konnten oder wissen sollten:

  • Telefon, 1876 Graham Bell
  • Phonograph, Edison 1877
  • Eisenbahnen können elektrisch betrieben werden, 1879 Werner von Siemens, Berlin
  • Erste Glühlampe von Edison, auch 1879
  • Das Automobil, erfunden von Carl Benz, 1886
  • Erster Gleitflug durch Otto Lilienthal, 1891

Was sie nicht wissen konnten bzw. was noch nicht erfunden war:

  • Radioaktivität, 1895
  • Braunsche Röhren (Voraussetzung für Fernseher), 1897
  • Motorflug, Gebrüder Wright 1903
  • Fließbandfertigung, Henry Ford 1913
  • erster Digitalrechner, Konrad Zuse 1941
  • Beginn der Raketentechnik, 1942

Was mich eigentlich am meisten erschreckte war, dass die Autoren so sehr in ihrem Denken und in ihrem Bereich verhaftet waren. Z.B. schrieb jemand, der sich mit der Post beschäftigte, um wieviel schneller und günstiger doch die Post in 100 Jahren sein werde. Ein anderer wiederum meinte, dass man in 100 Jahren New York nach Chicago in 6 Stunden mit dem Zug zurücklegen könne. Wieder ein anderer meinte, dass man in 100 Jahren die Kohle in die Wohnung transportiert bekäme und diese nicht mehr mühsam aus dem Keller holen müsse. Eine weitere Autorin war der Meinung, dass das Dienstpersonal in 100 Jahren weit besser gebildet sein werde als heute.

Wir verschicken heute sehr viel elektronische Post (Email) und diese ist in Bruchteilen von Sekunden am anderen Ende der Welt. Wir fliegen heute in 6 Stunden von New York nach Los Angeles oder alternativ über den Atlantik, was damals ca. 5 Tage per Schiff benötigte. Heute heizt (fast) niemand mehr mit einem Kanonenofen und Kohle seine Bude, sondern moderner Wohnraum wird über Zentral- oder Fußbodenheizung warm gehalten. Bedienstete sind - bis auf Millionäre - der breiten Bevölkerung unbekannt.

Es war den Autoren kaum möglich, über ihren eigenen Schatten zu springen, Dinge weiter zu denken und von den aktuell bekannten Erfindungen die wichtigen von den unwichtigen zu unterscheiden. Ein sehr gutes Beispiel für so einen Prognosefehler ist der Film "Zurück in die Zukunft II", in welchem Marty und Doc die Zukunft "reparieren" müssen und aus dem Jahr 1985 in das Jahr 2015, also 30 Jahre in die Zukunft reisen. Martys alter ego wird in der Zukunft gefeuert und in der Wohnung sind anscheinend etliche Faxgeräte installiert, so dass er ca. 20 "you're fired" Faxe von seinem Vorgesetzten erhält. Heute vor 7 Jahren wurde schon kaum mehr gefaxt und kein vernünftig denkender Mensch, käme auf die Idee, dass der Trend im Zweitfax zu Hause liege. Viele in den 90ern geborene wurden erst durch die Pandemie und die grottige Digitalisierung in Deutschland gewahr, dass es sowas wie das Faxgerät überhaupt bzw. noch gibt. So zeigt dieses Beispiel auch, dass nicht alles was aktuell ein Hype ist, den technischen Fortschritt überlebt (s.a. Tamagotchi, Videorecorder usw.) oder dass lang Prognostiziertes wie das "fliegende Auto für jedermann" bis heute noch nicht Realität, dafür benutzen wir mehr und mehr Drohnen, die vor 30 Jahren keiner auf seiner Agenda hatte.

Um zu verdeutlichen, was ich meine gebe ich hier die Prognose von John J. Ingalls zum besten, die aus meiner Sicht die beste im Buch ist (im Original und einer Google-Übersetzung):

Originaltext:

Man, having conquered the earth and the sea, will complete his dominion over nature by the subjugation of the atmosphere. This will be the crowning triumph of the coming century.

Long before 1993, the journey from New York City to San Francisco, across the continent, and from New York City to London, across the sea, will be made between the sunrise and sunset of a summer day. The railway and the steamship will be as obsolete as the stagecoach. And it will be as common for the citizen to call for his dirigible balloon as it is now for his buggy or his boots. Electricity will be the motive power, and aluminium or some lighter metal will be the material of the aerial cars, which will navigate the abyss of the sky.

The electric telegraph will be supplanted by the telephone, which will be perfected and simplified. Telephone instruments, located in every house and office, will permit the communication of business and society th be conducted by the voice at will from Boston to Moscow and Hoang-Ho, just as readily as now between neighboring villages.

This will dispose of the agitation of the proposition to take the railroads and telegraphs away from those who own them and give them to those who do not.

Domestic life and avocations will be rendered easier, less costly and less complex by the distribution of light, heat and energy through storage cells or from central electric stations. Thus the “servant problem” will cease to disturb. Woman, having more leisure, will elevate her political and social status from subordination to equality with men.

The contest between brains and numbers, which began with the birth of the race, will continue to its extinction. The struggle will be fierce and more relentless in the coming century than ever before in the history of humanity. But brains will keep on top, as usual. As before, those who fail will outnumber those who succeed.

Wealth will accumulate, business will combine, and the gulf between the rich and the poor will be more profound. But wider education and greater activity of the moral forces of the race ultimately will compel recognition of the fact that the differences between men are organic and fundamental – that they result from an act of God and cannot be changed by an act of Congress.

The attempt to abolish poverty, pay debts, and cure the ills of society by statute will be the favorite prescription of ignorance, incapacity, and credulity for the next 100 years – as it has been from the beginning of civilization.

The condition in the United States is unprecedented, in that all the implacables and malcontents are armed with the ballot. Thus, if they are unanimous, they can control the purse and the sword by legislation. Nevertheless, the perception exists that the social and political condition here, with all its infirmities, remains immeasurably the best. This perception will undoubtedly make our system permanent and preserve it even against essential modifications.

Our greatest city in 1993? Chicago! It is a vortex, with a constantly increasing circumference, int which the wealth and populations of the richest and most fertile area of the earth’s surface is constantly concentrating. When this anniversary returns, Chicago will be not only the greatest city in the United States, but also in the world.

Google-Übersetzung:
Nachdem der Mensch die Erde und das Meer erobert hat, wird er seine Herrschaft über die Natur durch die Unterwerfung der Atmosphäre vollenden. Dies wird der krönende Triumph des kommenden Jahrhunderts sein.
Lange vor 1993 wird die Reise von New York City nach San Francisco quer durch den Kontinent und von New York City nach London über das Meer zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang eines Sommertages zurückgelegt. Die Eisenbahn und das Dampfschiff werden ebenso obsolet sein wie die Postkutsche. Und es wird für den Bürger genauso üblich sein, nach seinem lenkbaren Ballon zu rufen, wie es jetzt nach seinem Kinderwagen oder seinen Stiefeln ist. Elektrizität wird die Antriebskraft sein, und Aluminium oder ein leichteres Metall wird das Material der Luftfahrzeuge sein, die durch die Abgründe des Himmels navigieren werden.
Der elektrische Telegraf wird durch das Telefon ersetzt, das vervollkommnet und vereinfacht wird. Telefonapparate, die sich in jedem Haus und Büro befinden, werden es ermöglichen, die geschäftliche und gesellschaftliche Kommunikation nach Belieben von Boston nach Moskau und Hoang-Ho zu führen, ebenso leicht wie jetzt zwischen benachbarten Dörfern.
Dies wird die Aufregung des Vorschlags beseitigen, die Eisenbahnen und Telegrafen denen zu nehmen, die sie besitzen, und sie denen zu geben, die sie nicht besitzen.
Durch die Verteilung von Licht, Wärme und Energie durch Speicherzellen oder aus Zentralelektriken werden das Leben und die Beschäftigung im Haushalt einfacher, kostengünstiger und weniger komplex. Damit hört das „Dienerproblem“ auf zu stören. Die Frau, die mehr Freizeit hat, wird ihren politischen und sozialen Status von der Unterordnung zur Gleichberechtigung mit Männern erheben.
Der Kampf zwischen Verstand und Zahlen, der mit der Geburt der Rasse begann, wird bis zu seinem Aussterben andauern. Der Kampf wird im kommenden Jahrhundert heftiger und unerbittlicher sein als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Aber das Gehirn wird wie immer an der Spitze bleiben. Nach wie vor werden diejenigen, die scheitern, die Erfolgreichen übertreffen.
Reichtum wird sich anhäufen, Geschäfte werden zusammenwachsen und die Kluft zwischen Arm und Reich wird tiefer. Aber eine breitere Bildung und eine größere Aktivität der moralischen Kräfte der Rasse werden letztendlich die Anerkennung der Tatsache erzwingen, dass die Unterschiede zwischen den Menschen organisch und grundlegend sind – dass sie das Ergebnis einer höheren Gewalt sind und nicht durch einen Akt des Kongresses geändert werden können.
Der Versuch, die Armut abzuschaffen, Schulden zu bezahlen und die Übel der Gesellschaft per Gesetz zu heilen, wird für die nächsten 100 Jahre das beliebteste Rezept für Unwissenheit, Unfähigkeit und Leichtgläubigkeit sein – wie es seit Beginn der Zivilisation der Fall war.
Der Zustand in den Vereinigten Staaten ist beispiellos, da alle Unerbittlichen und Unzufriedenen mit dem Stimmzettel bewaffnet sind. Wenn sie sich also einig sind, können sie den Geldbeutel und das Schwert per Gesetz kontrollieren. Dennoch besteht die Wahrnehmung, dass die sozialen und politischen Bedingungen hier mit all ihren Schwächen unermesslich die besten bleiben. Diese Erkenntnis wird unser System zweifelsohne dauerhaft machen und auch gegen wesentliche Veränderungen bewahren.
Unsere größte Stadt im Jahr 1993? Chicago! Es ist ein Strudel mit ständig wachsendem Umfang, in dem sich ständig der Reichtum und die Bevölkerung des reichsten und fruchtbarsten Gebiets der Erdoberfläche konzentriert. Wenn dieses Jubiläum zurückkehrt, wird Chicago nicht nur die größte Stadt der Vereinigten Staaten, sondern auch der Welt sein.

Fazit:

Viele Autoren haben den einen oder anderen Punkt oder liegen das eine oder andere mal richtig. Erschreckender jedoch ist, wie viel von der Prognose falsch ist. Keiner hat einen oder gar zwei Weltkriege prognostiziert. Keiner hat nur annähernd die komplette Elektrifizierung unseres Lebens vorhergesehen. Auch für etwas wie den Computer, die enorme Erstarkung des Dienstleistungssektors in modernen Gesellschaften (auch der fundamentale Fehler bei Marx) oder die Mondlandung (Jules Vernes war hier weiter 😉), reichte bei den Autoren die Fantasie nicht.

Dieses Buch sollte sich nur kaufen, wer an diesen alten Texten Spaß hat. Es ist etwas ermüdend zu lesen, wenn auch von Dave Walter toll zusammengestellt - er kann hier eigentlich am wenigsten dafür. Deswegen nur

5 von 8 möglichen Punkten.


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