Wer kennt sie nicht, die Keniakritik, die Nepalkritik, die Syrienkritik... Moment. Die kennt ja wirklich niemand. Antiamerikanismus ist ein stehender Begriff, wohingegen Antirusslandissmus sich trotz des Ukrainekriegs nicht durchsetzen will. Auch eine Chinakritik oder Antichinaismus ist unbekannt, obwohl der Umgang mit religiösen Minderheiten wie den Uiguren oder deren Nichtanerkennung von Taiwan auch Spielraum für Ressentiments und Kritikpunkte eröffnet.
Im dritten Beitrag zu meiner kleinen Nahostreihe soll es aber um die berühmte "Israelkritik" gehen und warum sich dahinter zu 99.9% einfach Antisemitismus verbirgt. Doch zunächst einmal zur Definition.
Hier kann man eine Arbeitsdefinition mitnehmen:
„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“
zur weiteren Klarstellung schreibt die Holocaust Rememberence Alliance
Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden. Antisemitismus umfasst oft die Anschuldigung, die Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass „die Dinge nicht richtig laufen“. Der Antisemitismus manifestiert sich in Wort, Schrift und Bild sowie in anderen Handlungsformen, er benutzt unheilvolle Stereotype und unterstellt negative Charakterzüge.
Jetzt nähern wir uns jetzt des Pudels Kern.
Wenn man sagt, dass Netanjahus vorgehen genauso bescheuert ist, wie das Engagement der USA unter George W. Bush in Afghanistan, dann ist das nicht antisemitisch. Wenn man der Meinung ist, dass die aktuelle Regierung Israels genauso rechts bis rechtsradikal ist, wie die US Regierung unter Trump, dann ist das nicht antisemitisch.
Wenn man aber nur singulär an Israel, Israels demokratisch gewählter Regierung oder an Israels Vorgehensweise Kritik übt, ohne diese ins Verhältnis zu anderen Entitäten oder Vorgehensweisen zu setzten, so ist dies zumindest antisemitismusverdächtig.
Wenn noch hinzukommt, dass gewisse Handlungen oder Vorgehensweisen dämonisiert werden, ohne dass ein Vergleich oder eine Einordnung erfolgt oder durch Verschweigen bestimmter Fakten die Handlung als noch unmoralischer erscheint, dann haben wir es mit Antisemitismus zu tun.
Hier ein paar Beispiele:
1. Das Ausbuhen der israelischen Sängerin beim ESC (die noch dazu eine Überlebende des genozidalen Angriffs der Hamas ist) und somit die Projektion der Politik Netanjahus auf sie ist antisemitisch. Hätte Netanjahu gesungen und wäre ausgebuht worden, wäre das nicht antisemitisch.
2. Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Anzahl ziviler Opfer im Gazastreifen bzgl. Israels Vorgehen ist antisemitisch. I.d.R. impliziert das ein unverhältnismäßig grausames Vorgehen Israels gegen die Zivilbevölkerung (was unwahr ist) ohne Ross und Reiter zu nennen, dass es sich hier um den Gegenschlag des Opfers handelt, das am 7.10.23 von der Hamas angegriffen wurde. Wer bzgl. der Opfer nicht angibt, dass sich Hamaskämpfer unter der Zivilbevölkerung verstecken, keine Feldzeichen tragen, zivile und geschützte Einrichtungen wie Kindergärten oder Krankenhäuser als deren Operationsbasis, Waffenlager o.ä. nutzen. Wer nicht sagt, dass bei den 50.000+ Toten auch alle natürlich verstorbenen Personen der letzten 1,5 Jahre und etliche von der Hamas hinzugelogenen Tote enthalten sind und es sich bei ca. 50% um Hamaskämpfer handelt, der muss sich den Antisemitismusvorwurf gefallen lassen.
3. Krieg ist grausam. Wer aber Israel ein übermäßig grausames Vorgehen ohne Einordnung vorwirft, der verhält sich klar antisemitisch. Blendet er doch das religiöse Abschlachten, den Genozid in Ruanda aus, vergiss auch die Gräuel des Vietnamkriegs und den hohen Preis, den die dortige Zivilbevölkerung zahlen musste, ignoriert den jahrzehntelangen Bürgerkrieg in Syrien mit seinen über 500.000 Toten, v.a. Zivilisten. Kurzum, jeder, der hier übermäßige Grausamkeit sieht, hat offenbar bei den Konflikten der letzten 100 Jahre tief geschlafen.
4. Wer "Meldungen aus Gaza" unhinterfragt glaubt, deren AI-Bilder teilt oder deren Todeszahlen blind kolportiert, aber jede Meldung der IDF erst mal in Zweifel zieht (weil sie ja von den bösen Juden kommt) ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Antisemit. Diese tollen Bilder von Gebäuden, die vermeintlich von Israel in die Luft gesprengt werden, gelingt der Hamas nur dadurch, dass Israel zum Schutz der Zivilbevölkerung vorwarnt, wo ein Angriff erfolgt. Die horrenden Zerstörungen sind u.a. der Tatsache geschuldet, dass die Hamas etliche Waffenlager in zivilen Gebäuden, Krankenhäusern, Wohnblocks und Schulen/Kindergärten hat, und somit die Sprengwirkung des Israelischen Angriffs vervielfältigt wird.
5. Wer Kriegsverbrechen nur bei den Israelis findet, ist Antisemit. Die IDF ist nicht besser oder schlechter als jede andere westliche Armee (vermutlich eher besser, was den Schutz der Zivilbevölkerung betrifft). Wenn die Hamas Rettungswagen als Taxis missbraucht, wenn sie ihre Zentralen gezielt unter oder in Krankenhäuser verlegt, wenn sie die Zivilbevölkerung am Verlassen eines Angriffsgebiet hindert und als menschliche Schutzschilde missbraucht, wenn sie ihre Kämpfer mit "Presse"-Westen ausstattet oder wenn sich ihre Führungsriege im Flüchtlingslager tarnt, dann sind das massive Kriegsverbrechen, die man in einem Atemzug nennen muss, wenn man Israel Kriegsverbrechen bezichtigt.
6. Wer "Zionist" oder "Zionismus" abfällig oder als Schimpfwort verwendet, ist wahrscheinlich Antisemit. Die Bestrebung ein eigenes Land zu haben, ist nicht per se verwerflich (s. Kurden, Katalonen usw.). Es geht um das Wie und auch hier haben sich die Juden wenig vorzuwerfen. Die Immobilien und Grundstücke in Palästina wurden unter Wahrung des geltenden Rechts erworben und gerade nicht gewaltsam enteignet. Die Juden stimmten 1948 dem Vorschlag des Völkerbundes zu und akzeptierten seine Entscheidung.
"Wir bieten allen unseren Nachbarstaaten und ihren Völkern die Hand zum Frieden den und guter Nachbarschaft und rufen zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe mit dem selbständigen jüdischen Volk in seiner Heimat auf. Der Staat Israel ist bereit, seinen Beitrag bei gemeinsamen Bemühungen um den Fortschritt des gesamten Nahen Ostens zu leisten."
Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel, verkündet in Tel Aviv am Donnerstag, 14. Mai 1948 (am nächsten Tag wurde Israel von 5 Arabischen Staaten angegriffen)
Der Antisemitismus ist ein weites Feld und es gibt ihn schon über Zweitausend Jahre. Die Gründe dafür variieren immer wieder, oft sind es religiöse Gründe, auch wirtschaftliche oder ideologischen Gründe können hinzukommen. Sehr oft, ist es nicht nur eine Ursache und allzu oft beginnt es schon in der Kindheit. Denn wie eine Seuche wird der Antisemitismus von den Eltern auf die Kinder übertragen. Wir sollten das stoppen und Israelis und Juden auf der ganzen Welt als das behandeln, was sie sind - ganz normale Menschen. Es sind keine Engel aber auch keine Dämonen. Manche sind verbohrt und fundamentalistisch, manche aufgeschlossen und progressiv, so wie viele andere Menschen der westlichen Welt.
"We're all human, aren't we? Every human life is worth the same, and worth saving."
J.K. Rowling
Hier noch ein aktuelles Negativbeispiel:
"Ein fester Punkt im großen Repertoire des Judenhasses ist der Gedanke, dass die Juden dafür verantwortlich sind, was die Judenhasser ihnen antun müssen, um die Welt vom größten aller Übel zu befreien." - Henryk M. Broder
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