Sonntag, September 29, 2019

Das Wort zum Sonntag #65

Thema heute: Religiöse Argumentation

Ich bin zufällig in einem alten Spiegel von 2015 über ein Interview gestolpert, welches das Blatt mit dem britischen Astrophysiker Ben Moore und dem Hamburger Pastor Johann Hinrich Claussen geführt hatte (und welches sogar hier eingesehen werden kann).

Dabei nimmt es schon fast kafkaeske Züge an, wie Claussen sich um jede existentielle Frage drückt. Man hat weniger Probleme dessertcremeartige Nachspeisen an die Wand zu nageln. Wobei man aber auch schamvoll zugeben muss, dass sich die beiden anderen Parteien (Spiegel & Moore) nicht besonders geschickt anstellen, obwohl es manch guten kritischen Ansatz gibt, der das Interview in toto lesenswert macht.

Hier ein Beispiel:
Moore: […] Ich würde also hinzufügen: Versucht nicht, andere von euren Ideen zu überzeugen, denn damit richtet ihr Katastrophen an, dann geht es plötzlich um Kontrolle, um Gehirnwäsche.  
SPIEGEL: Richten Sie Katastrophen an, Herr Claussen?  
Claussen: Jede Art der Kultur ist ambivalent, in allem steckt das Gute und Böse.  
SPIEGEL: Auch in der Religion?  
Claussen: Natürlich. Im Journalismus übrigens auch.  
SPIEGEL: Okay.
Das "Gute" und das "Böse" ist eine subjektive Qualifikation. Claussen entzieht sich der Antwort auf die Frage, indem er es von der Religion im Besonderen zur Kultur im Allgemeinen lenkt und dann auch noch dem Journalismus Gutes und Böses unterstellt. Seine Meinung, ob Religion nun für Katastrophen verantwortlich ist (wie z.B. die Massaker in Ruanda) bleibt unbeantwortet.

Etwas später geht es dann um die Wurst. Moore stellt dar, dass alles (auch die Liebe) nur chemischen Abläufen geschuldet ist, daraufhin geht es dann so weiter:

Moore: Ja, natürlich. Eine Nervenzelle ist ein komplexes Gebilde, aber man kann nachvollziehen, wie sie funktioniert. Und Gefühle sind eine molekulare Interaktion, Hormone führen dazu, dass wir uns gut fühlen oder schlecht.
SPIEGEL: Stimmen Sie zu, Herr Claussen?
Claussen: Natürlich nicht. Ich widerspreche entschieden. Sie simplifizieren alles.
Moore: Wieso das?
Claussen: Weil Menschen Gedanken haben und Gefühle. Wie wollen Sie die Selbstwahrnehmung, das Selbstbewusstsein des Menschen mit diesem Modell verstehen? Sicher, jedes Gefühl, jeder Gedanke ist mit einem materiellen Prozess im Gehirn verbunden, lässt sich aber nicht auf diesen reduzieren.
Moore: Es gibt keinen Beweis dafür, dass noch andere Faktoren im Spiel sind.
Claussen: Die Frage, wie man sich bewusst zu einem Gegenstand verhält, wie man ihn interpretiert und versteht, geht doch weit über neurophysiologische Reaktionen hinaus. Wahrscheinlich würde uns ein Philosoph des Bewusstseins, jemand wie Immanuel Kant, jetzt helfen können, er würde zwischen Ihnen und mir vermitteln.
Moore: Ein Philosoph würde hier auch nichts ausrichten können. Ich spreche von Wissenschaft. Sie sprechen von irgendeinem merkwürdigen Ding, das in unseren Köpfen herumspuken soll und für dessen Existenz ich keinerlei Beweise habe.
Claussen: Das ist kein Ding, sondern eine Dimension, wie wir die Welt betrachten. Naturwissenschaft kann nicht alles erklären.
SPIEGEL: Wer ist für diese Dimension verantwortlich? Gott?
Claussen: Mhm.
Moore: Glauben Sie eigentlich an Gott? Sorry, dass ich Sie jetzt so direkt frage: Glauben Sie zu 100 Prozent an ihn oder zu 99,9 Prozent? Haben Sie vielleicht auch Zweifel?
Claussen: Ich glaube an ihn, und ich habe Zweifel.
Moore: Sie wachen morgens nicht auf und denken: Ach, so ein Mist, das macht doch alles gar keinen Sinn?
Claussen: Nein, mein Glaube an Gott ist ein wesentlicher Teil meiner Beziehung zu dieser Welt.
Moore: Welche Aufgabe hat Gott in Ihrer Welt? Wenn Gott Ihrer Meinung nach weder den Menschen geschaffen hat noch das Universum: Welche Rolle bleibt ihm da noch?
Claussen: Ich glaube fest daran, dass es da etwas Bedingungsloses gibt in dieser Welt, etwas, das wunderschön ist, wahr und gut, etwas, was mich innerlich berührt und durch mein Leben führt. 
Leider lenken die beiden Interviewer des Spiegel dann vom Thema ab. Es wäre doch wirklich interessant zu erfahren, wie man sich etwas "Bedingungsloses" in einer Welt vorzustellen hat, in der bislang wirklich alles, was uns soweit untergekommen ist, bedingt ist. Selbst bei für uns "scheinbar" bedingungslosen Ereignissen (z.B. in der Quantenphysik) liegt die Vermutung nahe, dass sich uns die Abhängigkeiten für solche Ereignisse noch nicht vollumfänglich erschlossen haben. Claussen bemüht auch hier die Argumentation, die man ad nauseam aus der esoterischen Ecke kennt: alles ist irgendwie mehr als die Wissenschaft erkennt, ein Gedanke ist nicht nur eine komplexe bio-elektro-chemische Schaltung im Gehirn, sondern da kommt noch etwas on top... zwar gibt er zu, dass ursächlich die biologische Reaktion notwendig ist, aber aus seiner Sicht nicht ausreichend. Auch hier hätte Moore und/oder der Spiegel etwas mehr festnageln sollen. Was kommt denn dazu? Was muss hier dazugeschwurbelt werden?

Man sollte nie so dumm sein und Kleriker unterschätzen. Diese sind es von Berufs wegen gewohnt, den größten Teil ihres Lebens im Doppeldenk zu verbringen. Moore und die Damen & Herren vom Spiegel sind ja nicht die ersten Un- oder Weniggläubigen, die Claussen über den Weg laufen. Diese zweifelnden Fragen sind ja das Brot- und Buttergeschäft eines jeden Seelsorgers. Claussen hat sich gut geschlagen (die Gegenspieler hätten evtl. etwas früher aufstehen müssen 😉) und somit wahrscheinlich seine aktuelle Aufgabe als Kulturbeauftragter der EKD verdient...
"Theology is the effort to explain the unknowable in Terms of the not worth knowing." - H.L. Mencken 
 

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