Sonntag, August 16, 2020

Das Wort zum Sonntag #76

 Thema heute: Macht säkulare Ethik das religiöse Leben unmöglich?


Ethik ist, wie fast alles, einer Evolution unterworfen. War es z.B. jahrhundertelang "ok" Sklaven zu halten, so ist die Sklaverei mittlerweile weltweit geächtet, zumindest auf dem Papier ausgerottet und hat auch in den Menschenrechten (zu recht!) keinen Platz gefunden. Weiterhin bieten aber diverse religiöse Schinken ein anderes Bild, in denen ein allwissender Gott in seiner immergültigen Moral diese Weiterentwicklung in keinster Weise vorhergesehen hat.

Oder ein anderes Beispiel: Homosexualität. Lange als (heilbare) Krankheit gedeutet und "behandelt", blüht heute noch in manchen Teilen der Welt Homosexuellen die Todesstrafe, wohingegen in Deutschland schon die gleichgeschlechtliche Ehe erlaubt ist. Die "göttliche Moral" ist gleichgeblieben, unsere Sichtweise, unsere Ethik hat sich zum Positiven weiterentwickelt.

Und hier sieht man auch schon die Diskrepanz. Wenn meine Begründung für ethische Handlungsanweisungen (= Moral) aus alten Schriften von Ziegenhirten kommt, die per definitionem unabänderlich sind, weil sie ja ein spezifischer Gott in die Welt hinausventiliert haben soll, so kann dies - ebenfalls per definitionem - keinem Wandel unterworfen sein. Jeder Wandel machte den jeweiligen Gott sonst unglaubwürdig, die Religion dazu sinnlos.

Die geistigen Spagate, die gewisse Gläubige diesbezüglich dann auszuführen bereit sind, lasse ich mal außen vor. Gläubige Menschen in den Industrienationen neigen zu einem gesunden sowohl-als-auch, wenn eine dieser Diskrepanzen zwischen moderner Ethik und ihren heiligen Schriften existiert. Man findet die Homo-Ehe dann nicht gut, akzeptiert aber, dass es diese in Deutschland gibt (und "weiß", dass alle, die eine solche Ehe trotz Mahnung führen, dann eh in der Hölle landen werden). Man stellt sich mit "pro-life" Schildern vor Abtreibungskliniken oder Arztpraxen um zu zeigen, wie sehr man doch den göttlichen Ratschlag schätzt (der biblisch nicht gedeckt ist), lässt aber abtreibungswillige Frauen gewähren und wünscht sie dann in die Hölle o.ä.. Kurzum, man arrangiert sich als Gläubiger mit der bestehenden Gesetzgebung.

Es gibt aber gewisse Stöckchen, über die Religiöse zu springen nicht bereit sind. Die männliche Beschneidung ist z.B. ein solches. Wohingegen die Beschneidung (besser Genitalverstümmelung) bei weiblichen Personen per Strafgesetzbuch verboten ist, ist die männliche Genitalverstümmelung sogar explizit aus religiösen Gründen erlaubt. Eine der Begründungen, die 2012 vorgebracht wurden, als Frau Merkel dominagleich das Gesetz durch den Bundestag peitschte, um Deutschland nicht zu "Komikernation" werden zu lassen, dabei aber offenbarte, was für Kasperlköpfe in Berlin Gesetze beschließen, war, dass - und hier sind wir beim heutigen Thema angekommen - jüdisches Leben in Deutschland unmöglich gemacht werde, wenn Eltern ihre männlichen Nachfahren nicht mehr genital verstümmeln können. Eine ähnliche Argumentation erfolgte von muslimischer Seite.

Schauen wir uns mal an, was im Buch Levitikus 18 steht (Bestandteil der Torah und der Bibel, also quasi bindende Gesetzgebung für Juden und Christen):

In Vers 29 heißt es:

"Alle nämlich, die irgendeine dieser Gräueltaten begehen, werden aus der Mitte ihres Volkes ausgemerzt."

D.h. die Gräueltaten, zu denen ich gleich komme, sind der Todesstrafe würdig (ausmerzen). Und nachdem der Allmächtige sich zu fein ist, diese zu vollstrecken, übernehmen seine menschlichen Anhänger das nur zu gern für ihn. Diese sind z.B.:

  • keinen Inzest begehen (Vers 6-18, diese explizite, im Detail aufgeführte Liste, was alles nicht erlaubt ist, lässt darauf schließen, dass Inzest stark verbreitet war)
  • kein Sex mit Frauen während ihrer Periode, da sie dann "unrein" sind (Vers 19)
  • keinen Sex mit verheirateten Frauen (Vers 20)
  • seine Kinder nicht anderen Göttern als Menschenopfer darbringen (Vers 21)
  • nicht mit einem Mann schlafen, wie mit einer Frau (Vers 22)
  • kein Sex mit Tieren (Vers 23)

Mal abgesehen davon, dass männlicher Ehebruch mit unverheirateten Frauen gar nicht erwähnt wird (warum wohl?), bedeutet doch zumindest homosexuelle Handlungen zwischen Männern (warum sind Frauen hier nicht erwähnt?) und der Ehebruch ein "ausmerzwürdiges" Vergehen. 

Nach der obenstehenden Beschneidungslogik wäre somit christliches und jüdisches Leben in Deutschland unmöglich, wenn Ehebrecher und Homosexuelle nicht ausgemerzt würden. Um den Religionsfrieden wiederherzustellen, müsste die Todesstrafe für diese Vergehen wieder eingeführt werden. Diese Forderung wird nie erhoben - warum nicht? Auch können es (die allermeisten) Christen, Muslime und Juden "ertragen", dass andere in der deutschen Gesellschaft gegen diese beiden Gesetze verstoßen, ohne dass sie sie sofort umbringen wollen. D.h. man hat sich hier arrangiert, hat sich an die aktuell bestehende Ethik angepasst.

Nur dort, wo man sich im Recht wähnt, weil es eben "nur" um Tiere geht (s. Schächten) oder um die eigenen Nachkommen, an die man ein objektgleiches Besitzanspruchdenken verbindet ("der Penis meines Sohnes gehört mir"), da werden dämliche alte Regeln und Gesetze plötzlich kriegsentscheidend. 

Als säkulare Gesellschaft dürfen wir das nicht akzeptieren. Die Religionsfreiheit des einzelnen endet immer genau da, wo die Religionsfreiheit des anderen beginnt. Und auch die eigene Nachkommenschaft hat ab der Geburt dieses Recht und ist eben auch dieser "andere". Wenn jeder Mensch ein Recht auf körperliche Unversehrtheit hat, dann eben auch die Nachkommen religiöser Fanatiker und Genitalverstümmler. Eine Ethik, wie eine Fahne im Wind, nach jedem religiösen Lüftchen auszurichten, macht diese beliebig und ist das genaue Gegenteil von Handlungsmaximen.

Eine Tierethik muss für alle gelten, Ziegenhirtenausnahmen können nicht geduldet werden. Muslime oder Juden die Wert auf geschächtete Tiere legen, sollen doch bitte das Fleisch aus den Ländern importieren, die noch nicht so fortgeschritten sind. Eine säkulare Gesellschaft ist nicht dazu da, religiöse Spinnereien zu subventionieren und dabei ihre moralischen Leitlinien über Bord zu werfen. Wenn ein so schmerzloser und schneller Tod wie möglich, das Ziel einer Schlachtung sein soll, dann steht minutenlanges Ausbluten bei vollem Bewusstsein dieser Forderung diametral entgegen. 

Umgekehrt, wenn leidvolles Ausbluten für das religiöse Wohlbefinden bestimmter Gruppen essentiell ist, warum dann nicht die Ermordung Homosexueller und Ehebrecher? Ich finde, man sollte von religiöser Seite zumindest soweit konsequent sein, dass man entweder alle Gesetze in gleicher Weise verteidigt oder eben gar keines. Entweder alle Gesetze sind in gleicher Weise richtig und wichtig für ein religiöses Leben oder keines ist es. Das Aufweichen, das Relativieren nur eines der Gesetze, stellt das ganze Konstrukt in Frage. Denn fällt eines, fallen alle. Insofern wählen die Gläubigen einen aus meiner Sicht unlauteren Mittelweg: das was nicht zum Zeitgeist passt, wird totgeschwiegen, dass was k(aum) einen stört (Kinder & Tiere), wird bis aufs Blut(sic!) verteidigt.

Das religiöse Leben des einzelnen wird nicht unmöglich, wenn er seinem Sohn nicht mehr den halben Penis wegschneiden darf oder sich das Kilo Lamm für 100 € aus dem Ausland importieren muss. Es wird nur schwieriger. Und schwieriger ist erst mal gut, weil es für religiös-motivierte und von der Allgemeinheit subventionierte Sonderlocken in einer säkularen Gesellschaft keinen Platz geben darf. 

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