Ok, nach einer gefühlten Ewigkeit mit der einen oder anderen Lesepause (auch längeren) habe ich mich durch Deschners Kriminalgeschichte des Christentums durchgebissen. Leider konnte er das nicht mehr erleben, hatte jedoch vor seinem Tod noch sein Lebenswerk vollendet (hm... wieviele Lebenswerke wurden nach dem Tod beendet?).
Ich erinnere mich noch gut, als ich damals in Hamburg in eine Buchhandlung ging, erst mal in der Abteilung Religion nach Deschner suchte - natürlich nichts fand - und mich dann an eine nette Dame wandte, die ich fragte, ob sie wohl die "Kriminalgeschichte des Christentums" von Deschner hätte. Sie blickte kurz in ihren Computer und fragte dann zurück: "Welcher Band?"
Bis dahin war ich davon ausgegangen, dass die Kirchen wohl Dreck am Stecken hatten, aber dass es sich doch wohl mit einem mehr oder weniger dicken Buch abfackeln ließe. Wie falsch ich mit dieser Einschätzung lag, musste ich feststellen, als ich den ersten Band in den Händen hielt bzw. diesen dann irgendwann mal gelesen hatte.
Minutiös und detektivisch hat Deschner in der Kriminalgeschichte all das zusammengetragen und in den zeitlichen Kontext gestellt, was in irgendeiner Art von Beleg die Zeit überdauert hatte. Und je mehr man eintaucht, je weiter man verfolgt, wie stark doch alles menschelt und wie wenig bis nichts göttliches in der Kirchengeschichte vorhanden ist, desto grauenvoller ist die Vorstellung von alldem, was Deschner nicht aufschreiben konnte. Von all den Misshandlungen, Ausbeutungen und Menschenrechtsverletzungen die nirgends dokumentiert wurden - weil die Leute damals nicht wollten oder konnten.
Auch folge ich Deschners Argumentation, dass wir geschichtliches nur mit den heutigen Maßstäben bewerten dürfen und uns niemals auf das dünne Eis begeben dürfen, Geschichte aus der Geschichte heraus zu relativieren. Sätze wie "früher war das eben so" oder "die konnten doch früher froh sein, dass ihnen nichts schlimmeres passiert ist", bekommen einen fahlen Beigeschmack, wenn man diese exemplarisch auf das deutsche Nazi-Regime bezieht. Wenn wir heute im 21. Jhd. erkannt haben, dass etwas ungerecht, ethisch verwerflich oder ein Verbrechen ist, dann mag der Tatbestand vor ein paar hundert Jahren nicht geahndet worden oder nur ein Vergehen, sogar straffrei (Sklaverei) gewesen sein, der Maßstab muss aber immer die aktuelle Sichtweise sein - schlicht und ergreifend, weil wir keine andere haben. Alles andere wäre Spekulation und Kaffessatzleserei.
Wer sich die Kriminalgeschichte antut sollte wissen, dass jeder Band an die 300-400 Seiten hat, zusätzlich noch etliche Dutzend Seiten Quellenangaben. Deschners Schreibweise ist zwar ein exzellentes Deutsch, dennoch herausfordernd zu lesen, da so viele Zitate einfließen, und somit die volle Aufmerksamkeit des Lesers erfordern. Es ist keine Lektüre, die man fernsehbegleitet konsumieren kann. Auch kann man Lesezeichen empfehlen, um die besonders wertvollen Stellen zu markieren oder sich auch diverse Zitate rauszuschreiben.
Wer eine anspruchsvolle Lektüre nicht scheut, wer die Geschichte aus den Augen eines "Staatsanwalts" betrachten möchte und die Zusammenhänge zwischen Politik und Religion besser verstehen möchte, für den ist die Lektüre klar zu empfehlen - aber man sollte genügend Zeit mitbringen... 😉
8 von 8 möglichen Punkten
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